Midian: Gesamtausgabe (German Edition) by Jutta Ahrens

Autor:Jutta Ahrens [Ahrens, Jutta]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-09-23T04:00:00+00:00

25

Über Babylon spannte sich ein wolkenloser Himmel. Noch war die sengende Mittagshitze fern. Asandros erhob sich und streckte die Glieder in der kühlen Morgenluft. Wie still war es um diese Zeit, wenn die quirlige, lebenslustige Stadt noch ihren Rausch ausschlief. Asandros trat auf die Terrasse und atmete den Duft ein, den das blühende Buschwerk verströmte.

Da zuckte er jäh zusammen; ein schauerliches Geheul zerriss die Stille und ließ die Luft erzittern. Es kam aus der Stadt, brach sich als vielfältiges Echo und füllte den Raum, als verströme ein sterbender Gott über der Stadt seine Totenklage.

Asandros sah sich um, nichts war zu sehen, die Bäume wiegten sich im Wind, nur die Vögel waren in dem auf- und abschwellenden Missklang nicht mehr zu hören. Asandros lief ins Zimmer zurück, kleidete sich rasch an und lief auf den Gang in die Halle. Scheschaschared kam ihm entgegen und verbeugte sich. »Es ist der eiserne Stier, Herr, heute brüllt er.«

»Wer?«, rief Asandros. »Bei allen Höllengeistern, das ist unerträglich!« Er packte den Vorsteher am Gewand. »Was ist das? Sprich!«

Scheschaschared wurde blass. »Der Stier des Marduk. Er erhebt seine Stimme nur selten.«

»Fasele keinen Unsinn! Dort schreit doch ein Mensch in höchster Qual.«

Scheschaschared röchelte, Asandros drückte ihm fast die Luft ab. »Du hast noch nichts davon gehört, Herr? Jemand wird im eisernen Stier geröstet.«

»Es ist eine Hinrichtung?« Asandros ließ den Vorsteher los, der erleichtert den Atem ausstieß und furchtsam einige Schritte zurückwich. »Ja Herr, aber bei vollem Bewusstsein wird sie selten vollstreckt.«

»Wie kann sich das Geschrei in ganz Babylon verbreiten?«

Scheschaschared zitterte. Er hatte den freundlichen Griechen noch nie zornig erlebt. »Im Maul des Stiers befindet sich ein Schalltrichter, der die Schmerzensschreie verzehnfacht, verhundertfacht vielleicht. Jeder in Babylon hört es, wenn der Stier brüllt.«

»Wer denkt sich so etwas aus?«, stieß Asandros erschüttert hervor.

»Marduk ist der Stier«, flüsterte der Vorsteher. »Wenn er brüllt, zittert die Stadt, und so soll auch der Erdkreis erzittern vor Babylons Macht.«

Das Schreien hatte aufgehört. Asandros sah das schwitzende Gesicht des Vorstehers, seine aufgerissenen Augen, aber darin war kein Mitgefühl, nur Furcht. Angewidert wandte Asandros sich ab. Die babylonische Rechtsprechung geht mich nichts an, redete er sich ein.

Vor den Unterkünften der Krieger trat ihm Nebusaradan entgegen und schlug ihm auf die Schultern. »Du bist ziemlich blass, Asandros. Ja, so etwas schlägt auf den Magen.«

»Es ist abscheulich. Weshalb sind die Männer noch nicht angetreten?«

»Sie werden nicht kommen. Ich habe sie eingesperrt.«

»Warum?«

»Heute Morgen konnten diese Schnarchsäcke gar nicht schnell genug von ihren Strohsäcken aufspringen. Der Stier, verstehst du? Dieser unmenschliche Stier. Als das Gebrüll anhub, glänzten ihre Augen, und sie wollten hinaus auf den Platz, ihn sehen, aber der Sache habe ich einen Riegel vorgeschoben.«

Obwohl Asandros erleichtert war, verstand er nicht. »Und deshalb hast du sie eingesperrt? Ich dachte, ganz Babylon …«

»Blödsinn!« Nebusaradans Hand wischte unsichtbare Mücken fort. »Dieses Geschrei ist scheußlich, aber manche meinen, es schrecke andere vom Verbrechen ab.«

»Ich bin froh, dass wir hier die gleiche Auffassung haben«, gab Asandros zur Antwort, »aber zur Hinrichtung zu gehen, ist sicher nicht verboten. Ich verstehe immer noch nicht, weshalb du die Männer eingesperrt hast.

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